
Berlin – Zunehmende psychische Belastungen vor allem bei Kindern und Jugendlichen, lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz, Nachwuchsprobleme wegen fehlender Finanzierung der Weiterbildung.
Mit der Frage, welche Weichen jetzt gestellt werden sollten, damit die psychotherapeutische Versorgung im Jahr 2035 besser wird als heute, befassten sich Experten aus der Psychotherapie und eine Krankenkassenvertreterin im Rahmen des 4. Deutschen Psychotherapie Kongress in Berlin, der heute endet.
Epidemiologische Studien zeigten, dass jede dritte Frau, jeder vierte Mann im Laufe eines Jahres von den Kriterien einer psychischen Störung betroffen sei. Darauf verwies Frank Jacobi von der psychologischen Hochschule Berlin.
„Psychische Störungen sind mit enormen Kosten und Krankheitslasten verbunden. Sogenannte ‚ ,Disorders of the Brain‘, wozu neben den psychischen Störungen auch neurologische Erkrankungen zählen, sind insgesamt teurer als Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs zusammen“, berichtete der Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie.
Enorme Krankheitslast psychischer Erkrankungen
Zu dem Kostenfaktor Fehltage berichteten die Krankenkassen, dass die F-2-Diagnosen seit Jahren auf den vorderen Rängen ständen, beziehungsweise insgesamt zwölf Prozent aller Fehltage über alle Erkrankungsgruppen hinweg darstellten, berichtete Jacobi.
Geprägt seien psychische Störungen von einer langen Krankschreibungsdauer, mit Fehltagen um 28 Tage. „Bei dem Kostenfaktor Erwerbsminderung liegen sie seit circa 20 Jahren auf Platz eins unter allen Diagnosen.“ Auch bei den Disability Adjusted Life Years seien psychische Störungen immer auf den vorderen Plätzen.
Die Krankheitslast sei enorm, gleichzeitig stelle die ambulante Psychotherapie mit 1,3 Prozent der Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nur einen relativ kleinen Faktor dar, betonte Jacobi.
Stationäre Ausgaben für F-Diagnosen seien über zehnmal höher. „Für die Psychotherapie gibt es umfassende Nachweise von Wirksamkeit und Effektivität, weshalb wir ein Missverhältnis der eingesetzten Ressourcen haben“, sagte der Hochschullehrer. Kostenexplosionen bei zusätzlichen Angeboten sehe er daher nicht.
Den Fokus auf die Mängel in der Versorgung psychisch kranker Menschen legte Rudolf Stark, Professor für Psychotherapie und Systemneurowissenschaften an der Universität Gießen. Er geht davon aus, dass rund 10.000 zusätzliche Psychotherapeuten geschaffen werden müssten, um alle, die psychotherapeutische Hilfe brauchen, zu versorgen.
Das entspreche etwa einem Drittel der derzeit zugelassenen Psychotherapeuten (32.000). Die bisherigen Maßnahmen bezeichnete er als „sehr sinnvoll, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein“. Insbesondere für Kinder und Jugendliche, Personen mit Suchtproblemen und neuropsychologische Patienten müssten mehr Angebote geschaffen werden, forderte Stark. Menschen mit Migrationshintergrund fänden oftmals keinen Zugang zur Versorgung.
Drohendes Nachwuchsproblem in der Psychotherapie
Der Vorsitzende des Verbunds universitärer Ausbildungsinstitute (unith) sieht auch ein Nachwuchsproblem für die Psychotherapie. Aktuell gebe es eine hohe Zahl an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die über 60 Jahre alt seien und demnächst in Rente gingen.
Wenn die Finanzierung der neuen Weiterbildung nicht schnellstens geregelt werde, würden die jährlich rund 2.500 Absolventen der Studiengänge Klinische Psychologie und Psychotherapie, sich andere Berufsoptionen suchen, statt in die Niederlassung zu gehen. „Eine Versorgungswende bis 2035 ist nur zu schaffen, wenn die Weiterbildung zum Laufen gebracht wird“, sagte Stark.
Rund 70 Prozent der Psychotherapeuten mit Teilzulassung
Die Sicht der Krankenkassen auf die psychotherapeutische Versorgung stellte Franziska Weigel, Referentin beim AOK-Bundesverband, vor. „Wir haben im internationalen Vergleich eine qualitätsbasierte und standardisierte Ausbildung, einen direkten Zugang ohne Gatekeeping zur Psychotherapie sowie die Vergütung von Psychotherapie durch die GKV und das auch extrabudgetär“, hob sie hervor.
In den vergangenen Jahren habe es bei den Niederlassungen einen Zuwachs von 48 Prozent gegeben. Dass inzwischen aber rund 70 Prozent der Psychotherapeuten im Rahmen einer Teilzulassung tätig seien, erschwere die Erreichbarkeit und Kontaktaufnahme von Hilfesuchenden, so Weigel.
„Trotz der einmaligen Rahmenbedingungen und der Zuwächse in den Niederlassungsmöglichkeiten sind Versorgungsmängel erkennbar“, sagte Weigel.
Die psychotherapeutische Sprechstunde nehme ihre Steuerungswirkung gut wahr, doch 55 Prozent der AOK-Versicherten nähmen nach den ersten Abklärungsgesprächen keine weiteren psychotherapeutischen Leistungen in Anspruch, obwohl sie eine psychotherapie-indizierende Diagnose hatten.
Die Frage stelle sich, ob hier nicht auch Patienten verloren gingen. „Angesichts des hohen Anteils stellen wir uns die Frage, ob vorgeschaltete Steuerungsinstrumente sinnvoll sein könnten“, betonte die AOK-Referentin.
Zudem ließe sich in der psychotherapeutischen Versorgung ein hoher Anteil an kurzen Interventionen erkennen. Bei der Akutbehandlung sei eine sehr reduzierte Inanspruchnahme zu erkennen, weil ein Drittel der Patienten die Behandlung schon nach der ersten Therapieeinheit abbrechen würden. Die Gründe dafür seien unklar. Zudem ist Weigel zufolge das Potenzial der Gruppentherapie noch nicht hinreichend ausgeschöpft, weil die Inanspruchnahme bei vier Prozent liege.
Aus Sicht des AOK-Bundesverbandes gibt es drei Handlungsfelder, die die psychotherapeutische Versorgung verbessern könnten: die Förderung der mentalen Gesundheit insbesondere bei Kindern und Jugendlichen durch die Vernetzung bestehender regionaler Angebote; eine effizientere Nutzung der vorhandenen Ressourcen; neben der psychotherapeutischen Sprechstunde sollte der Zugang bedarfsgerechter gestaltet werden. Weigel sprach hier insbesondere die Terminservicestellen an.
„Lippenkenntnisse“ in der Versorgung
Die Probleme in der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher fokussierte Julian Schmitz, Professor für klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Leipzig.
„In der Coronapandemie gab es die große gesellschaftliche Erkenntnis, dass Kinder und Jugendliche in ihrer psychischen Gesundheit und in ihrem Zugang zur Versorgung deutlich unterstützt werden müssen. Leider sind das bis heute Lippenkenntnisse geblieben“, sagte er. Und dasdas, obwohl psychische Belastungen auf einem hohen Niveau blieben.
Bei Kindern und Jugendlichen werde die Stellschraube gedreht, ob Menschen psychisch gesund oder krank lebten, betonte Schmitz. Eine große Metaanalyse habe noch einmal bestätigt, dass drei Viertel aller psychischen Erkrankungen über die Lebensspanne bis zum 24. Lebensjahr begännen und 50 Prozent bis zum 14. Lebensjahr. Entsprechend sei die psychotherapeutische Versorgung von Heranwachsenden sehr wichtig, auch um Chronifizierungen zu vermeiden.
Die durchschnittliche Wartezeit auf einen Psychotherapieplatz für einen Heranwachsenden beträgt 28 Wochen im Bundesdurchschnitt laut Schmitz, der eine bundesweite Befragung von allen niedergelassenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapiepraxen heranzog.
„Das ist mehr als ein halbes Jahr und betrifft viele Kinder und Jugendliche, die oft sehr schwere Störungen haben“, kritisierte er. Grund dafür sei, dass es „keine sachgerechte Bedarfsplanung“ für Kinder und Jugendliche gebe. Nötig sei eine von der Erwachsenenpsychotherapie unabhängige Bedarfsplanung, die in den Versorgungsregionen auf empirischen Daten beruhe.
Der Psychotherapieprofessor wünscht sich „am besten schon für heute“ eine Zukunft, in der die Prävalenz von psychischen Störungen national und repräsentativ kontinuierlich erfasst wird. „Wir brauchen eine ‚Mental Health and All Policies‘-Politik, gerade für Kinder und Jugendliche, in der wir auch Prävention in Bezug auf Kinderarmut betreiben und uns für Kinderrechte einsetzen.

23.04.2025
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