Seltene Krankheit: Mit einem Bein im Leben
15. Juli 2024, 15:25 Uhr
Von Hannah Küppers, Unterschleißheim
„Ich hätte gerne mal wieder einen Tag ohne Schmerzen“, sagt Tatjana. Aber der 25-Jährigen aus Unterschleißheim muss nur ein Stift auf den Fuß fallen und sie bekommt starke Schmerzen, der Fuß wird nicht mehr richtig durchblutet, verfärbt sich bläulich und wird eiskalt. Tatjanas Körper reagiert extrem auf jeden Reiz, seit sie an CRPS erkrankt ist, einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom.
Anfangs sah es nur nach einer Sehnenscheidenentzündung am linken Fuß aus. Doch als die Schmerzen nicht nachließen, ließ die junge Frau weitere Untersuchungen über sich ergehen, bis die Ärzte nach langer Zeit diese seltene Krankheit diagnostizierten. „Google das auf keinen Fall, da kriegst du nur Angst“, riet ihr Ergotherapeut. Daran hielt sich Tatjana, aber Angst bekam die Sportlerin trotzdem. Sie fürchtet, ihr Bein irgendwann gar nicht mehr bewegen zu können oder ihre große Leidenschaft, das Klettern, aufgeben zu müssen.
Die Situation verschlimmerte sich mit einer Operation. Die Entfernung eines Ganglions am Unterschenkelknochen verstärkte das Schmerzsyndrom noch, die üblichen Mittel halfen nicht. Nach vielen Fehlversuchen fand Tatjana bei einer Schmerzambulanz die richtige Medikation, sodass ihr Bein weniger wehtut – solange sie sich nicht bewegt. Gleichzeitig soll sie Kraft- und Ausdauertraining machen, um ihren Körper fit zu halten.
Beim Klettern findet sie eine gute Lösung. „Da kann das Bein einfach runterhängen“, erklärt sie. Tatjana klettert also mit drei statt mit vier Gliedmaßen und hat nach eigener Aussage eine „ganz neue Beziehung“ zum Klettern entwickelt. „Vorher hatte ich meine Standard-Bewegungsmuster. Jetzt brauche ich Kreativität, um das Problem zu lösen, das ein Bein weniger auslöst. Dadurch wird jede Route einzigartig und aufregend“, erzählt die Sportlerin. An der Wand sei sie immer noch dieselbe wie vor der Erkrankung, auch wenn der Rollstuhl unten wartet, auf den sie seit einem Jahr angewiesen ist.
Mit kreativen Lösungen kennt sich die Kletterin nun aus und kann damit auch anderen helfen. Schon vor ihrer Erkrankung brachte Tatjana Kindern das Klettern bei, um sich neben ihrem Studium Geld zu verdienen. Seitdem sie mit Handicap klettert, ist sie Teil des nationalen Teams für Paraclimbing. Ihre Teamkollegen sind Männer und Frauen mit amputierten Gliedmaßen, neurologischen Erkrankungen und Sehbehinderung. Vor wenigen Wochen ist Tatjana mit ihrem Partner zum Paraclimbing World Cup nach Innsbruck gefahren. Dort gab es eine böse Überraschung: Sie wurde vom Kletterverband kurzfristig ausgeschlossen, weil ihre Krankheit per Definition eine Schmerzstörung sei und deshalb nicht unter die gängigen Kategorien falle. Für Tatjana ist das ein harter Schlag, den sie noch verarbeiten muss. Trotzdem blieb sie beim Wettkampf, um ihr Team zu unterstützen.
Das ersehnte Handbike kostet 9500 Euro
Es ist eine Erfahrung, die Tatjana oft machen muss: Da ihre Krankheit so selten und schlecht erforscht ist, passen ihre Bedürfnisse nicht zum Katalog der Krankenkassen. Den Aktiv-Rollstuhl, den sich die junge Frau vor einem Jahr für 4500 Euro angeschafft hat, um überhaupt noch allein das Haus verlassen zu können, musste sie selbst bezahlen. Und das zu einem Zeitpunkt, als sie ihren Job aufgeben musste. CRPS tritt meist an den Handgelenken auf und folglich braucht es – laut Krankenkasse – keinen Rollstuhl. Hinzu kommen immer wieder Kosten und Eigenanteile, die Tatjana für Physio- und Ergotherapie, Behandlungen oder Taxitransporte übernimmt. Das Handbike, das sie sich gerne anschaffen möchte, um längere Strecken zurücklegen zu können, kostet 9500 Euro.
Eine Freundin brachte Tatjana auf die Idee, eine Crowdfunding-Kampagne zu starten. Die gemeinnützige Familienkrebshilfe Sonnenherz entdeckte Tatjanas Kampagne. Sonnenherz unterstützt Familien, die wegen Krebs oder anderer schwerer Schicksalsschläge in Not geraten sind. Sie übernahmen für Tatjana die Öffentlichkeitsarbeit und starteten einen Spendenaufruf.
Wenn man Tatjana fragt, was sie mit einem riesigen Lotteriegewinn anstellen würde, denkt sie zu zuerst an die vielen Leute, die ihr Geld geliehen haben in den vergangenen Jahren. Das würde sie gerne zurückgeben. Eine große Summe würde sie auch dem Verein Inselzeit spenden, der inklusive Sportarten anbietet und ihr die Chance gegeben hat, mit einem Wanderrollstuhl das erste Mal nach drei Jahren wieder in die Berge zu gehen.
Wenn die Psychologiestudentin mit ihrem Master fertig ist, möchte sie gerne selbst für Inklusion arbeiten. Bei einem Praktikum in einer Inklusionskletterhalle hat sie gemerkt, dass ihre Empathiefähigkeit dabei hilft. „Wenn man selbst in so einer Situation landet, merkt man erstmal, wie viel Luft nach oben da noch ist“, sagt sie. Es gebe ein Problem im Kopf der Menschen, eine Unbehaglichkeit und Berührungsempfindlichkeit gegenüber Menschen mit Behinderung. Das führe zu einer extremen Separierung. Ihr sei vorher nicht bewusst gewesen, wie vielen Schwierigkeiten Menschen mit Behinderung begegneten. „Inklusion ist so viel mehr als das, was wir sehen können“, sagt sie. Gegen die Blockade in den Köpfen der Menschen will sie kämpfen. Nicht zu sagen „Das geht doch gar nicht“, sondern „Schauen wir mal, wie es möglich ist“, müsse der Ansatz sein. „Wir können nicht genauso teilhaben, aber wir wollen eine Chance bekommen teilzunehmen“, erklärt sie, und dafür wolle sie sich einsetzen, nicht die Grenzen des Systems akzeptieren.
24.07.2024
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