shz: Selbst Wind verursacht Qualen

Unheilbare Nervenerkrankung CRPS: Schmerzen bei jeder Berührung

Selbst Wind verursacht Qualen –
Michaela Untersehr hat eine der schmerzhaftesten Krankheiten der Welt

Von Nadine Ballweg | 27.04.2023, 10:00 Uhr

Michaela Untersehr aus Baden-Württemberg leidet seit einem Treppensturz an der seltenen Nervenerkrankung CRPS. Schon sanfte Berührungen verursachen bei ihr starke Schmerzen. Foto: Nadine Ballweg

Seit einem Treppensturz leidet Michaela Untersehr aus Jettingen bei Stuttgart an der seltenen und unheilbaren Nervenerkrankung CRPS. Bei Wind und Regen kann sie nicht einmal das Haus verlassen.

Unzählige Male war sie die Treppe mit den etwas unregelmäßigen Stufen bereits rauf- und runtergegangen. So oft, dass sie dem Weg aus ihrer Wohnung hinaus nicht einmal mehr einen gesonderten Gedanken schenkte. Es war wie Schuhe binden. Nach kurzer Zeit denkt man nicht mehr darüber nach, welche Schlaufe in welche Öse gehört oder welcher Schritt welchem folgt. Am 16. Dezember 2013 ist es jedoch anders. In der Mitte der Treppe fällt Michaela Untersehr nach vorn. Es ist der Anfang eines unvorhersehbaren Leidenswegs, der Beginn eines mittlerweile neunjährigen Kampfes mit dem – und für das Leben.

Mit dem Treppensturz endete das Leben, wie Michaela Untersehr es bis dahin kannte. Nach einer Nachtschicht und wenigen Stunden Schlaf machte sich die alleinerziehende Mutter mittags auf, um ihre Tochter Sarah vom Kindergarten abzuholen. Dann der Sturz. „Ich weiß nicht einmal, ob ich bewusstlos war“, erzählt sie heute. Mit einer Kopfverletzung und Knieschmerzen hangelte sie sich am Geländer zurück nach oben. Ihr damaliger Partner fuhr sie auf ihren Wunsch in die nächstgelegene Klinik nach Krumbach, damit sie schnellstmöglich behandelt werden und wieder nach Hause zu ihrer Tochter könne. Dass sich die Rollen in ihrer jungen Familie bald tauschen würden, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen.

Sturz löste seltene Krankheit CRPS aus

Heute ist Michaela Untersehr 34 Jahre alt. Sie sitzt in ihrem Rollstuhl am Küchentisch ihres Bungalows. Dort lebt sie mit der mittlerweile 15-jährigen Sarah neben ihren Eltern. Die junge Frau erzählt von ihrem neuen Leben nach dem Sturz. Zunächst seien die Ärzte von einem Innenbandanriss des linken Beins ausgegangen. Doch auch nach Wochen verschlimmerten sich die Schmerzen. Regelmäßige Klinikbesuche wurden für sie alltäglich.

Sie erinnert sich an jeden Krankenhausaufenthalt, an jedes Arztgespräch. Lange hätten ihr die behandelnden Ärzte ihre Diagnose verschwiegen, erzählt sie, und hätten ihr Bein entgegen den damaligen medizinischen Standards operiert. Im Oktober 2014 bekam sie in der Fachklinik Ichenhausen bei Ulm Klarheit: Sie leidet am chronischen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS).

Mehr Informationen:
Das Komplexe Regionale Schmerzsyndrom (engl. CRPS – Complex Regional Pain Syndrome) ist eine Schmerzerkrankung, die in Folge einer Körperschädigung auftreten kann. Sie zeigt sich als eine Konstellation von Schmerzen, entzündlichen Symptomen, reduzierter Beweglichkeit und reduzierter Kraft, sowie Störungen der Sensibilität. Mit einer Häufigkeit von zwei bis 15 Prozent kommt es nach Verletzungen der Arme oder Beine zum CRPS, vorwiegend nach Knochenbrüchen, Operationen und anderen schwereren Verletzungen. Typische Symptome umfassen Schwellungen, Veränderungen der Hautfarbe und der Temperatur des betroffenen Körperteils, eine vermehrte Schweißbildung oder Veränderungen des Fingernagel- und Haarwachstums. Die Schmerzen können permanent vorhanden oder belastungsabhängig sein. Die Ursache des CRPS ist bis heute nicht vollständig geklärt.

Michaela Untersehr erträgt endlose Schmerzen

Die chronische neurologische Erkrankung äußert sich zuerst am linken Bein, später auch im rechten Arm. Bereits sanfte Berührungen führen zu Blasen auf ihrer Haut, die zu Nekrosen werden und starke Schmerzen verursachen. Im April 2016 führte an der Amputation ihres linken Beins kein Weg vorbei. Die Krankheit nahm ihr ihre Spontanität und ihre Unbeschwertheit. Geblieben sind der Schmerz und die emotionale Zerreißprobe, die eigene Tochter nicht mehr in den Arm nehmen zu können.

Auch das Gefühl der Freiheit, wenn der Fahrtwind das Gesicht kitzelt, bleibt Untersehr seit ihrer Erkrankung verwehrt. Früher unternahm sie mit Sarah im Fahrradanhänger ausgiebige Touren. Heute kann sie bei Wind und Regen das Haus nicht verlassen. Bereits sanfte Böen und Tropfen sind unerträglich. Ihren rechten Arm kann sie nicht in schützende Jacken kleiden, verbringt die meiste Zeit drinnen. Das Fokussieren auf einen Film oder ein Buch ist aufgrund der brennenden Nervenschmerzen unmöglich. Auf die Frage nach einem Lichtblick antwortet Untersehr: „der Sommer“.

Die junge Frau möchte trotz ihrer CRPS-Erkrankung nicht aufgeben

Zusätzlich zu den Phantomschmerzen bildeten sich am Stumpf ihres Beins Nervenwucherungen, sogenannte Neurome. Für das Wasserlassen braucht sie darum eineinhalb Stunden, nur unter starken Schmerzen und mit Betäubungsmitteln ist es überhaupt möglich. „Es sind die normalsten Dinge der Welt, die nicht mehr machbar sind“, fasst sie zusammen, wie ihr ganz alltäglicher Kampf aussieht. Die Teilhabe am regulären Leben ist seitdem für Untersehr größtenteils unmöglich. Über ihre Schmerzen, die besonders in der Nacht stärker werden, spricht die Mutter nur ungern, hält vieles einfach aus. Sie selbst sagt: „Man ist wie versteinert und bekommt nicht mehr alles mit.“

Das „Päckchen“, das sie ihrer Familie auferlegt, versuche sie so leicht wie möglich zu halten. Das Leben mit der Krankheit und der Hilfe, auf die sie deshalb angewiesen ist, möchte sie nicht als ihren „neuen“ Alltag beschreiben. „Dann ist die Chance so gering, dass es wieder anders werden kann“, erklärt sie. „Ich will die Krankheit nicht einfach hinnehmen. Das fühlt sich für mich an wie aufgeben.“ Und aufgeben, das kann sie allein wegen ihrer Tochter nicht.

Michaela Untersehr spricht über das Gefühl, als „würde alles in Flammen stehen“. Aber auch darüber, dass sie die Hoffnung nicht aufgeben wolle. Auf einen Arzt, der ihr helfen kann, auf eine bessere Forschungslage zum CRPS. Darauf, dass sich andere Betroffene in ihrer Geschichte wiederfinden. Dass ihre Tochter trotz allem glücklich sein kann. Es ist die Hoffnung auf einen langen Sommer.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Augsburger Allgemeinen.

Quelle: https://www.shz.de/lebenswelten/gesundheit-fitness/artikel/krankheit-crps-frau-erleidet-schmerzen-bei-jeder-beruehrung-44600219

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