Nach dem BSG-Urteil
Für Hausärzte wird die Cannabis-Verordnung wohl schwieriger
Schon bisher haben Krankenkassen Ärztinnen und Ärzten die Verordnung von Cannabis nach Kräften erschwert. Der G-BA könnte nun Hausärzten ohne Zusatzqualifikation die Therapie mit Cannabinoiden ganz aus der Hand schlagen – nicht ohne Widerspruch.
Von Christian Beneker
Veröffentlicht: 06.01.2023, 04:00 Uhr
Schon bisher haben Krankenkassen Ärztinnen und Ärzten die Verordnung von Cannabis nach Kräften erschwert. Der G-BA könnte nun Hausärzten ohne Zusatzqualifikation die Therapie mit Cannabinoiden ganz aus der Hand schlagen – nicht ohne Widerspruch.
Härtere Zeiten für die Verordner von Cannabis und ihre Patienten? Nachdem das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Ergebnisse der Begleiterhebung zur Cannabisverordnung im Sommer vorgelegt hatte, war der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) am Zug. Er hat auf Basis der Daten Vorschläge für eine Anpassung der Arzneimittelrichtlinie vorgelegt. Sie laufen darauf hinaus, die Verschreibung von Cannabis zu erschweren: Hausärzte ohne Zusatzbezeichnung spezielle Schmerztherapie oder Palliativmedizin sollen gar kein Cannabis mehr verschreiben dürfen.
Die G-BA-Vorschläge sind Ende Oktober ins Stellungnahmeverfahren gegeben worden. Noch während des laufenden Verfahrens war das Bundessozialgericht mit vier Urteilen einer strafferen Linie bei der Cannabis-Verordnung beigesprungen. Das Verfahren beim G-BA ist inzwischen abgeschlossen.
Studienergebnisse sind mit Vorsicht zu genießen
Rückblende: Über fünf Jahre hinweg (von 2017 bis 2022) hat das BfArM im Auftrag des Gesetzgebers die Daten zur Therapie mit Cannabisarzneimitteln gesammelt und ausgewertet: Welcher Fachrichtung gehörten die verordnenden Ärztinnen und Ärzte an? Wie lange dauerten die Therapien? Welche Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf und die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten hatten sie? Insgesamt wurden zwölf Fragen zur Auswertung gestellt.
Obwohl die verordnenden Ärztinnen und Ärzte verpflichtet waren, ihre Verordnungsdaten zur Verfügung zu stellen, konnte das BfArM nur 16.809 vollständige Datensätze in die Auswertung einbeziehen. Zudem ist die Erhebung keine randomisierte Studie, die Ergebnisse sind also mit Zurückhaltung zu genießen.
Gleichwohl sind die Daten der Studie überdeutlich: „In nahezu 75 Prozent der Fälle wurde durch die Anwendung von Cannabisarzneimitteln eine Besserung der Symptomatik erreicht. Nebenwirkungen waren häufig, aber in der Regel nicht schwerwiegend“, heißt es im Abschlussbericht des BfArM. „In 70 Prozent der Fälle wurde eine Besserung der Lebensqualität berichtet.“ Bei 38,5 Prozent der Patienten trat keine Wirkung ein, und die Therapien wurden abgebrochen. In 25,9 Prozent der Fälle waren Nebenwirkungen der Abbruchgrund, in 20,2 Prozent der Tod der Patienten.
Chronische Schmerzen häufigster Grund für Cannabisverordnung
Schmerzen waren der häufigste Anlass, Cannabis zu verordnen. In mehr als drei Vierteln der Fälle (76,4 Prozent) verschrieben die Ärzte Cannabis gegen chronische Schmerzen – gegen Spastiken in 9,6 Prozent, gegen Anorexie in 5,1 Prozent der Fälle. Die meisten Patienten hatten einen langen Leidensweg hinter sich. Im Durchschnitt wurden sie seit acht Jahren wegen der bestehenden Symptomatik behandelt.
Verordnet wurden Cannabisblüten und -extrakte, Sativex, Nabilon und Dronabinol. Die Rezepte wurden von den gesetzlichen Kassen geprüft und bei positiver Bewertung bezahlt. Cannabinoide sind in Deutschland bisher nicht als Fertigarzneimittel zugelassen. Am häufigsten wurden die Arzneimittel von Anästhesiologen verordnet, gefolgt von den Hausärztinnen und Hausärzten und den Neurologen.
Die Erkenntnisse aus der Begleiterhebung könnten „zur Planung und Durchführung klinischer Studien genutzt werden. Denn zum Beleg der Wirksamkeit und Sicherheit von Cannabisarzneimitteln ist die Durchführung klinischer Studien nach internationalen Standards erforderlich“, mahnt schließlich der Bericht.
Nachdem die Mitglieder des G-BA den Bericht des BfArM auf den Tisch bekommen hatten, machten sie eine ganze Reihe Vorschläge, wie die Arzneimittelrichtlinie vor dem Hintergrund der BfArM Begleiterhebung anzupassen sei, teilweise zum Unwillen der Ärzte.
Verordnungsmöglichkeiten der Hausärzte stark eingeschränkt
Besonders ärgerlich für die Hausärztinnen und Hausärzte, die bisher in der Therapie engagiert sind: Sie sollen in Zukunft kein Cannabis mehr verschreiben dürfen, es sei denn, sie verfügen über die Zusatzbezeichnung für spezielle Schmerzmedizin oder Palliativmedizin.
Im Übrigen bleibe die Verschreibung bestimmten Fachärzten mit speziellen Qualifikationen vorbehalten, so der G-BA. Schmerzpatienten dürfen Cannabis nur dann von ihrem Arzt erhalten, wenn er zum Beispiel Anästhesiologe oder Neurologe ist oder Allgemeinmediziner mit entsprechender Zusatzqualifikation (Palliativmedizin, Schmerztherapie).
Ähnlich bei Patienten mit Spastiken. Sie dürfen nur von Neurologen und Fachärzten für physikalische und rehabilitative Medizin mit Cannabis versorgt werden. Hausärzte bleiben hier komplett außen vor. Auch die Anforderungen für die Begründung bei der Erstverordnung werden im Entwurf für die geänderte Arzneimittel-Richtlinie hochgeschraubt, was die Hürden für eine Verordnung erhöhen dürfte.
Drei von vier Klagen abgewiesen
Die strikteren Regeln werden flankiert von einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. November. Vor allem haben die Sozialrichter genauer definiert, was genau als eine schwerwiegende Erkrankung zählt, die eine Verordnung erlaubt.
Die zu behandelnde Erkrankung müsse schwerwiegend sein und sich deutlich abheben von durchschnittlichen Leiden, so das Gericht. Auch ein Behinderungsgrad von 50 Prozent wird als Kriterium genannt. Auch die Sozialrichter ziehen die Anforderungen an die Begründung der Verordnung an. Vor dem BSG hatten vier Kläger verlangt, dass die Krankenkassen die Verordnung von Cannabis bezahlen. Drei der vier Klagen gegen die Ablehnung der Erstverordnung wurden abgewiesen.
Aus dem Gesetz: Paragraf 31, Absatz 6 SGB V
Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn
1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse.
Die Ärzte Zeitung hat einige Verbände um Stellungnahmen zu den Vorschlägen gebeten. Kritisiert wird insbesondere der Wegfall der Möglichkeit für Hausärzte, ohne Zusatzqualifikation spezielle Schmerztherapie oder Palliativmedizin, Cannabis zu verordnen.
Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) erwartet „klare und evidenzbasierte Regelungen zur Cannabisverordnung“, wie sie auf Anfrage mitteilt und kritisiert: „Es kann nicht sein, dass die Aussetzung der üblichen erprobten Nutzenbewertung zu einer weiteren Überbürokratisierung mit einer Flut von Einzelfallanträgen führt.“
Andererseits müsse auf der hausärztlichen Versorgungsebene eine regresssichere Verordnungsmöglichkeit bestehen, fordert die DEGAM. Viele Patienten hätten derzeit keinen zeitnahen Zugang zu Spezialisten.
Die DEGAM sehe darüber hinaus, „dass es schwierig sein wird, das Prozedere bei zugelassenen Indikationen (on-label) wie zum Beispiel Multiple Sklerose oder der Verordnung am Lebensende im Rahmen der allgemeinen ambulanten Palliativversorgung beizubehalten“, kommentiert die Fachgesellschaft. „Hier könnte der G-BA im Beschlusstext eben diese Ausnahmen zur Verordnungsfähigkeit anführen.“
Dr. Markus Beier, Vorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes, kritisiert dass der G-BA in seinem Beschluss offenbar die Qualifikation der Hausärzte nicht anerkennt, obwohl sie seit fünf Jahren Cannabis verordnen. „Das zeigt einmal mehr, dass es in Teilen der Selbstverwaltung nach wie vor eine völlige Unkenntnis der Kompetenzen der Hausärztinnen und Hausärzte gibt“, sagte Beier auf Anfrage der Ärzte Zeitung.
Im Interesse der Betroffenen sei das nicht, würden doch Patienten mit Multipler Sklerose und Sterbende im Wesentlichen von Hausärztinnen und Hausärzten versorgt. Der G-BA habe sich „offensichtlich sehr weit von der Versorgungsrealität entfernt“.
Auch Ulrich Grabenhorst vom Vorstand der deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) kann nicht verstehen, warum es der G-BA den Allgemeinmedizinern offenbar nicht zutraut, Cannabis zu verschreiben. „Bei uns kann jeder Hausarzt Morphium verschreiben. Dass er dann kein Cannabis verordnen kann, finde ich nicht richtig“, so Grabenhorst zur Ärzte Zeitung.
Er hätte statt einer Begleiterhebung lieber Zahlen aus randomisierten Studien, die klar nachweisen, was wie wirkt. „Das ist der gültige Standard in der Arzneimitteltherapie und da haben wir bisher wenig zu Cannabis.“ Er forderte die Verbände der Cannabiswirtschaft auf, solche Studien durchzuführen. Auch wenn es schwierig sei, Krankheitsschwere zu skalieren, sollte Cannabis „nicht bei nur leichten Beschwerden verordnet werden.“ Den Genehmigungsvorbehalt indessen kann Grabenhorst nachvollziehen: „Schließlich sind es die Kassen und damit die gesamte Gesellschaft, die die Verordnungen bezahlen müssen.“
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