Alarmstufe Orange: Birgit Pahl über die Krankheit CRPS und Selbsthilfe
05.11.2023, 12:02 Uhr
Von: Andreas Schultz
Am ersten Montag im November ist das Thema gesetzt: Der weltweite „Color the world orange“-Tag soll Aufmerksamkeit für das Komplexe Regionale Schmerzsyndrom (Complex Regional Pain Syndrome, kurz: CRPS) schaffen. Die Krankheit ist nach wie vor schlecht erforscht. „Es gibt wenig Informationen“, sagt Birgit Pahl. Die gelernte Logopädin ist selbst betroffen – und hat bis zur Diagnose eine lange Reise hinter sich gebracht.
Rotenburg – Dass die Informationslage auch 2023 noch eine dünne ist, steckt bereits im Namen der Krankheit: Sie ist komplex. CRPS kann eine Vielzahl verschiedener Symptome mit sich bringen, die kommen und gehen, die unterschiedlich gehäuft auftreten – und keines von ihnen stellt ein Alleinstellungsmerkmal des Schmerzsyndroms dar.
In Pahls Fall ging alles mit einem scheinbar harmlosen Unfall im Urlaub in 2020 los. Sie rutscht auf einer sandigen Stufe aus, während sie ein Board fürs Stand-up-Paddling trägt und bricht sich einen Zeh. Noch am gleichen Tag zurück in Deutschland, lässt sie die Verletzung behandeln – aber die starken Schmerzen bleiben trotz Besserung des Gesamtbilds.
Erst spät kommt die Diagnose „Morbus Sudeck“
In der Folge der Erkrankung bilden sich andere Symptome: Der Fuß fühlt sich heiß an, mal kalt, schwillt, verliert an Muskeln, brennt, sticht, schmerzt dumpf, ist mal über- und mal untersensibel. Dazu kommt die abnehmende Belastbarkeit, höhere Lärmsensibilität. Entsprechend der sehr unterschiedlichen Zustände, die Pahl als sogenannte Fußbetroffene – weit verbreitet ist auch die Handbetroffenheit, etwa als Folge eines Handgelenkbruchs – rätseln Ärzte und Therapeuten lange. Erst eine Schmerztherapeutin kommt auf die Diagnose „Morbus Sudeck“, eine veraltete Bezeichnung des Schmerzsyndroms.
Derartige Irrfahrten müssen nicht sein. Auch deshalb hat Pahl zusammen mit der ebenfalls betroffenen Sonja Stegen und der Zentralen Informationsstelle Selbsthilfe Selbsthilfekontaktstelle (Ziss) in Rotenburg eine Selbsthilfegruppe gegründet. „Der Austausch ist viel wert“, stellt Pahl zur Gruppe fest. Diese wiederum ist inzwischen auch ans CRPS-Netzwerk angeschlossen.
CRPS ist alles andere als ein Pappenstiel
Bei den Treffen helfen sich Betroffene gegenseitig, aber auch Angehörige können dazustoßen. „Dort bietet sich ihnen die Gelegenheit, mal über Dinge zu sprechen, die man zum Beispiel mit dem Partner nicht besprechen kann, oder andere Sichtweisen auf die Erkrankung zu bekommen“, sagt Pahl. Denn das Komplexe Regionale Schmerzsyndrom wird Teil des gemeinsamen Haushalts, des gemeinsamen Lebens.
Denn CRPS ist alles andere als ein Pappenstiel. Die Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen wiegen schwer: Die ehemalige Hochleistungssportlerin Pahl kann sich aufgrund der geringen Belastbarkeit nur noch eingeschränkt bewegen – oft trifft man sie mit ihrem Laufrad an, wenn sie das Haus verlässt. Bei Handbetroffenen wird schon der Abwasch, schon das Anziehen der Jacke zum Albtraum. Vielfach beklagen Betroffene auch, dass auch ihre Stressresistenz abnimmt. Die Einschränkungen können sich so schwer auswirken, dass sie Folgekrankheiten nach sich ziehen. Etwa Depressionen – „gerade bei Menschen, bei denen die Krankheit chronisch bleibt“, verdeutlicht Pahl.
Denn, ja, die Symptome können abklingen. „Dabei spricht man von Remission“, erklärt die Clüversborstelerin. Ganz verschwinden werde die Krankheit allerdings für den Rest des Lebens nicht, ein Risiko des Wiederaufflammens bleibt: „Es kann wieder kommen – auch an anderer Stelle“. So wie bei Pahl selbst, die sich schon ein Stück zurück ins Leben gekämpft hatte, als sie vor einem halben Jahr umknickte – und das Schmerzkarussell sich wieder von vorne zu drehen begann.
„Es kann jeden treffen“
Die Zahlen, mit denen die CRPS-Patientin hantiert, lassen aufhorchen: „Man kann bei Betroffenen von einer Rate von 50 Prozent ausgehen, bei denen es gut zurückgeht“, sagt sie. Und: Viele Betroffene kehrten auch nicht zurück ins Arbeitsleben, mehr als 50 Prozent, überschlägt Pahl.
„Es kann jeden treffen“, weiß Pahl. „CRPS geht alle an – weil es jeder kriegen kann“, reimt dazu das CRPS-Netzwerk auf einer der Broschüren. Und: Wird es nicht rechtzeitig behandelt, werde CRPS mit nahezu 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit chronisch. Lieber unsicher sein und auf Verdacht behandeln lassen, als einen chronischen Verlauf riskieren, lautet Pahls Devise. Also lieber auf Nummer sicher gehen, denn die Angelegenheit ist für sie, so wie für viele andere ernst: „Das Leben ist für mich eine Herausforderung geworden“.
Kontakt
Wer sich mit der Selbsthilfegruppe in Verbindung setzen oder als Teilnehmer dabei sein möchte, der meldet sich bei der Ziss in Rotenburg. Ein Anruf unter 04261/8518239 oder eine E-Mail an ziss-rotenburg@ caritas-stade.com genügt. Die Sprechzeiten der Selbsthilfekontaktstelle sind montags, 11 bis 16 Uhr, und donnerstags, 10 bis 15 Uhr. Die Beratung ist vertraulich und kostenlos.
CRPS: Forschung, Medikation, Indikatoren
Reflexdystrophie, entgleiste Heilentzündung, komplexes regionales Schmerzsyndrom oder veraltet „Morbus Sudeck“ sind Synonyme für das „Complex Regional Pain Syndrome“, kurz CRPS. Laut Birgit Pahl, die sich auf Grundlage ihrer Ausbildung durch etliche Fachbücher und -artikel in Ärzteblatt & Co. gewühlt hat, sei die Forschung trotz dieser vielen Namen noch nicht besonders weit in der Ergründung der Krankheit. Da wäre etwa die Frage nach dem Auslöser: „Man kommt nicht so richtig dahinter, was genau die Erkrankung anstößt“, sagt Pahl. Als wahrscheinlich gelte eine Autoimmunerkrankung in Kombination mit dem verletzten Nervensystem. Das wiederum führe dazu, dass Arzneimittel verschrieben werden, die normalerweise in unterschiedlichsten anderen Fachgebieten zur Anwendung kommen. „Auf keiner Packung wird stehen: Indikation CRPS. Tatsächlich kommen etwa Antidepressiva zum Einsatz. Oder Mittel zur Behandlung von Epilepsie.“ Dem Forschungsstand entsprechend ist CRPS wenig bekannt bei studierten Medizinern. Die beste Chance auf erfolgreiche Diagnose hätten laut Pahl Schmerztherapeuten beziehungsweise Anästhesisten: „Die kennen sich damit noch am besten aus.“ Und selbst die sogenannten Budapest-Kriterien seien kein Garant für die Diagnose. Anhaltender Schmerz ist ein Kriterium. Das zweite und dritte beinhaltet eine Auswahl vieler Kategorien, von denen mehrere erfüllt sein müssen, etwa Asymmetrie der Hauttemperatur und reduzierte Beweglichkeit. Das vierte Kriterium: „Es gibt keine andere Diagnose, die diese Schmerzen erklärt.“ Mehr Informationen zu CRPS allgemein, aber auch zu den Budapest-Kriterien gibt es auf www.crpsnetzwerk.org.
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