Übersicht und neue Therapieansätze – Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (aerztezeitung.de)

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05.05.2023

von: Dr. med. Livia Steenken, Prof. Dr. med. Frank Birklein

Erschienen in: MMW – Fortschritte der Medizin Ausgabe 9/2023

Beim komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) handelt es sich um eine Schmerzerkrankung, die sich nach Verletzung eines Gliedmaßes entwickelt. Man unterscheidet zwischen dem CRPS I ohne und dem CRPS II mit klinisch offensichtlicher Nervenläsion. In punkto Therapie hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Was dabei zu beachten ist, erfahren Sie in diesem Beitrag.

Das CRPS-Kardinalsymptom sind Schmerzen der betroffenen Extremität. Diese werden meist tief im Gewebe empfunden, oft gehen sie auch mit einer mechanischen Hyperalgesie (Allodynie) der Haut einher. Am Anfang der Erkrankung zeigt sich oft eine überschießende posttraumatische Entzündung mit einer Symptomkonstellation aus Rötung, Schwellung, Temperaturerhöhung, Hyperhidrose, Bewegungsschmerz und eingeschränkten Beweglichkeit (sog. „warmes CRPS“). Seltener findet man eine blasse oder livide Verfärbung und kalte Haut (sog. „kaltes CRPS“). Gerade bei länger bestehendem CRPS stehen motorische Symptome wie Dystonien, Myoklonien und Tremor im Vordergrund. 

Abb. 1
CRPS am linken Fuß (Schwellung und Rötung)
© Universitätsmedizin Mainz
CRPS an der linken Hand (Faustschluss durch Bewegungseinschränkung nicht möglich)
© Universitätsmedizin Mainz

Die Inzidenz des CRPS liegt allgemein nach Frakturen bei 1-2%, nach konservativ behandelten distalen Radiusfrakturen bei ca. 3%. Die Diagnose wird rein klinisch anhand der Budapest Diagnosekriterien gestellt, die von der International Association for the Study of Pain (IASP) validiert wurden.

Die offiziellen Budapest Diagnosekriterien
1. Anhaltender Schmerz, der durch das Anfangstrauma nicht mehr erklärt wird.
2. Der Patient berichtet über min. 3 Symptome aus den folgenden 4 Kategorien:
a. Hyperalgesie (Überempfindlichkeit für Schmerzreize); Hyperästhesie (Überempfindlichkeit für Berührung, Allodynie)
b. Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe
c. Asymmetrie des lokalen Schwitzens; Ödem
d. Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, Bewegungseinschränkung, Veränderungen von Haar oder Nagelwachstum 
3. Klinisch finden sich min. 2 Symptome aus den folgenden 4 Kategorien:
a. Hyperalgesie (Überempfindlichkeit für Schmerzreize); „Hyperästhesie“ (Überempfindlichkeit für Berührung, Allodynie)
b. Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe
c. Asymmetrie des lokalen Schwitzens; Ödem
d. Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, Bewegungseinschränkung, Veränderungen von Haar oder Nagelwachstum 
4. Eine andere Ursache erklärt die Symptomatik nicht hinreichend
Tab. 1
Kriterien für das CRPS

Pathophysiologie

Die Pathophysiologie ist multifaktoriell und hat periphere und zentrale Komponenten. Physiologisch kommt es nach einem Trauma zu einer Entzündungsreaktion. Beim CRPS bestehen aufgrund noch unklarer Ursachen viele autoimmune Entzündungssymptome, die durch Zytokine, Neuropeptide und Immunglobuline vermittelt sind, zum Teil über Monate weiter fort. Anhaltende Entzündungen und Schmerzen führen zu einer Sensibilisierung und Reorganisation des zentralen Nervensystems und so zum CRPS. Durch die schmerzvermeidende Nichtnutzung der betroffenen Extremität wird die sensorisch-motorische Integration gestört, was zu einem Verlust der motorischen Funktion und zu vermehrten Schmerzen führt. 

Aufgrund dieser neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse hat im Bereich der Therapie ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Neben einer adäquaten Schmerztherapie spielt nun auch die antientzündliche Therapie eine wichtige Rolle. Zentrale Reorganisationsmechanismen können mit physikalischen und neuropsychologischen Maßnahmen behandelt werden. Allerdings fehlen noch ausreichend viele kontrollierte und randomisierte Studien, um von einer hochwertigen Evidenz sprechen zu können. Dennoch ist nach Expertenkonsens eine frühzeitige multimodale Therapie wichtig.

Antientzündliche Therapie

Bei frühen entzündlichen CRPS Fällen (< 6-9 Monate Dauer; Rötung, Überwärmung, Schwellung) können Glukokortikoide eingesetzt werden. Bezüglich Dosis und Dauer der Therapie gibt es keine klare Handlungsempfehlung. Wir selbst haben gute Erfahrungen mit einer mittleren oralen Dosis über 100 mg Prednisolon pro Tag gemacht (Dosisreduktion alle 3 Tage um 25 mg). Gut untersucht sind außerdem Bisphosphonate (Dosierung siehe unten). Sie wirken langfristig entzündungshemmend und haben einen positiven Effekt auf Schmerz, Funktion und Selbstbeurteilung der Patienten. Aufgrund der seltenen, aber gravierenden Nebenwirkung von Osteonekrosen am Kiefer, sollte eine zahnärztliche Vorstellung vor Therapiebeginn erfolgen.

SubstanzDosierung
Alendronat40 mg/d p.o. über 8 Wochen (hohe Dosis!)
Pamidronat60 mg i.v. einmalig
Clodronat300 mg/d i.v. an 10 Tagen
Neridronat100 mg/d i.v. an 4 Tagen (noch nicht zugelassen)
Tab. 2
Dosierung der Bisphophonate

Schmerztherapie

Für Medikamente, die bei anderen neuropathischen Schmerzen eingesetzt werden, gibt es beim CRPS keinen eindeutigen Wirksamkeitsnachweis. Gabapentin (Startdosis: 300 mg. Steigerung: täglich um 300 mg bis auf 1.200-2.400 mg in drei Einzeldosen. Dosis-Maximum: 3.600 mg) scheint einen positiven Effekt insbesondere auf die Allodynie zu haben und wird regelhaft angewandt. 

Der Einsatz von Opioiden beim CRPS wird kontrovers diskutiert. Im Einzelfall kann eine zeitlich begrenzte Therapie Sinn machen, bei ausbleibender Schmerzreduktion sollten die Opioide aber wieder abgesetzt werden. Bei ausgeprägten therapieresistenten Schmerzen kann eine Ketamininfusion über mehrere Tage in einem spezialisierten Zentrum durchgeführt werden. 

Interventionelle Therapien

Die invasiven Behandlungen sollten nur in spezialisierten und erfahrenen Zentren durchgeführt werden. Wenn die nicht-invasiven Schmerztherapien versagt haben, kann eine Inhibierung des Sympathikus durch Grenzstrangblockade in Erwägung gezogen werden. Es finden sich einige Fallserien mit eindrücklichen Erfolgen, eine Evidenz konnte allerdings nicht nachgewiesen werden. Sehr gut belegt ist die Wirksamkeit der epiduralen Rückenmarksstimulation oder der Stimulation an den dorsalen Wurzelganglien beim CRPS der unteren Extremität. Die Komplikationsrate bei Stimulation der oberen Extremität ist unverhältnismäßig hoch. Zur Therapie der dystonen Störung beim chronischen CRPS kommen intramuskuläre Botulinumtoxin-Injektionen und selten die intrathekale Baclofen-Gabe zur Anwendung.

Physikalische und neuropsychologische Maßnahmen

Direkt nach Diagnosestellung sollte eine Physio- und Ergotherapie eingeleitet werden. Patienten müssen angeleitet werden, sich selbst über die Schmerzgrenze hinaus zu wagen. Hier zeigt vor allem das „Graded Exposure“, ein abgestufter Übungsplan mit immer schwierigeren Situationen, hervorragend Wirksamkeit. Oft wird in diesem Rahmen zur Korrektur zentraler Reorganisation eine Spiegeltherapie oder das „Graded Motor Imagery“ (Links/Rechts-Erkennen, Vorstellung von Bewegungsabläufen und Spiegeltherapie) eingesetzt. Bei komorbid vorliegenden psychischen Erkrankungen ist eine zusätzliche Psychotherapie sinnvoll.

Prophylaxe

Das Risiko für die Entwicklung eines CRPS kann durch eine adäquate Schmerztherapie während oder direkt nach dem Trauma sowie durch kurze Operationszeiten vermindert werden. Gegebenenfalls wirkt auch der Einsatz einer Regionalanästhesie risikomindernd. 

Fazit für die Praxis

  1. Im Akutstadium des CRPS sollten bereits bei Verdacht und fehlender Kontraindikation antientzündliche Therapien beginnen (Kortikosteroide oder Bisphosphonate).
  2. Die Schmerzmedikation sollte zur Vermeidung einer Chronifizierung von Beginn an ausreichend dosiert werden. Bei Versagen pharmakologischer Maßnahmen kann eine invasive Therapie in einem spezialisierten Zentrum notwendig sein.
  3. Physikalische und neuropsychologische Maßnahmen (mit verhaltenstherapeutischen Anteilen) sollten frühzeitig eingeleitet werden. 

Autoren:

Dr. med. Livia Steenken,Universitätsmedizin Mainz Klinik und Poliklinik für Neurologie, Langenbeckstr. 1, D-55131 Mainz, livia.steenken@unimedizin-mainz.de

Prof. Dr. med. Frank Birklein, Universitätsmedizin Mainz Klinik und Poliklinik für Neurologie 

Referenz:
https://www.springermedizin.de/komplexes-regionales-schmerzsyndrom/komplexes-regionales-schmerzsyndrom/das-komplexe-regionale-schmerzsyndrom-crps/25331898?nl_date=2023-09-28&nl_name=SM_NL_UPDATE_SCHMERZ